Belrem oder Die Hochzeit von Tübingen

von Norbert Riemer 2017

Wer heute aus Pforzheim ins wunderschöne Nagoldtal wandert, läuft entlang der liebevoll renaturierten Nagold, passiert erst die Steinerne Brücke in Dillstein, um wenig später an der ehemaligen Weißensteiner Mühle den Berg hinauf zur Bogenbrücke zu kommen.
Wer sich dann nach rechts wendet, trifft nach wenigen Metern auf die Ruine der Burg Weißenstein, im Volksmund "Burg Rabeneck" genannt. Diese beheimatet heute eine Jugendher-berge, die weit im Land bekannt und beliebt ist. Auch wenn so manche Gäste mit einem leichten Schaudern auf ihren Aufenthalt zurückblicken; berichten sie doch, daß, insbesondere nach schweren Gewittern, im Burghof eine hohe Gestalt zu sehen war, die klagende Worte gegen den Himmel richtet; und so schnell der Spuk begann, so schnell endete er.
Wo die Wissenschaft am Ende ihrer Erklärungen angelangt ist, muss die Beschreibung dieses Phänomens in den längst vergangenen Zeiten dieser Burg und in den Taten ihrer Bewohner gesucht werden. Und wir werden sehr schnell in den Überlieferungen unserer Vorfahren fündig. Wir werden in eine Zeit geführt, aus der nur wenige Dokumente überliefert sind, aber selbst diese wenigen Urkunden offenbaren uns eine Zeit voller Gefahren und Abenteuer. Wir tauchen in die Geschichte der Herren von Weißenstein ein, welche die Burg Weißenstein erbaut haben. Sie entstammen einem alten Geschlecht des Kriegeradels, deren Verwandte vom Rand des Schwarzwaldes bis in das Stromberggebiet beheimatet waren, und die aus Eroberungen, Erbschaften und Lehen über viele, teilweise weit verstreute Güter verfügten. Innerhalb dieser Familie gab es klare Trennungen der Aufgaben, die jeder einzelne zu erledigen hatte. Bei den Herren von Weißenstein war es Berthold, der älteste Sohn, der als Vogt die weltliche Macht ausübte, sein jüngster Bruder Gottbert war als Geistlicher für das Seelenheil der Gemeinde zuständig, und Belrem, als mittlerer der Brüder war der Krieger. Um ihn, um Belrem von Weißenstein, rankt sich unsere Sage, die ich hier so aufschreibe wie sie mir überliefert wurde, und wie sie den vorhandenen Zeugnissen entspricht. Es ist nicht meine Aufgabe als Chronist, die Vorkommnisse zu bewerten oder gar ein Urteil über die Personen zu fällen, die in dieser Sage der abscheulichsten Verbrechen beschuldigt werden, so wenig wie es mir gelingen wird, die ruhelosen Seelen zu befreien, welche im Hof der Burg Weißenstein in ihrer Verdammnis verharren. Ich kann die Geschichte nur so weitergeben, wie sie uns Kindern an langen Winterabenden erzählt wurde.

Diese Geschichte spielt sich im 13. Jahrhundert ab. Es war eine Zeit, in der Deutschland in unzählige kleine Gebiete mit unterschiedlichsten Herrschaftsstrukturen zersplittert war. Königreiche, Grafschaften, Städte und sonstige Herrschaften bestimmten den Alltag und damit auch das Rechtswesen, das nötigenfalls flexibel gehandhabt werden konnte. Aber wo es auch an Rechtssicherheit mangelte; die Menschen war sehr religiös, und "Gottesfurcht" war eine ernsthafte Größe im Leben aller. Auch, oder vielleicht sogar im besonderen, beim Adel und dem freien Rittertum.

Es war das Jahr 1230 als der junge Ritter Belrem von Weißenstein aus dem Heiligen Land zurückkam, in das er Kaiser Friedrich II. auf dessen Kreuzzug begleitet hatte. Sein Vater war während seiner Abwesenheit verstorben, und sein älterer Bruder Berthold hatte inzwischen das Lehen Weißenstein und die damit verbundene Vogtei übernommen. Das Dorf Weißenstein war im Zuge des Neubaus der unteren Burg gerade in der Gründung und im frühen Wachstum, und jede helfende Hand wurde dringend gebraucht. Die Erschließung des Nagoldtales und der umliegenden Wälder und Höhen war eine enorme Aufgabe, und vor den ersten kargen Erträgen standen viele Mühen, Aufwendungen und Fehlschläge.
Die Reise in den Orient hatte aber in Belrem eine auffällige Veränderung bewirkt. Dem Ruf des Kaisers folgte ein feuriger und kühner Belrem, der sich voller Ehrgeiz den Kreuzfahrern anschloss. Es galt das Land Jesu des Erlösers den Muslimen wieder zu entreißen. Zurück kam ein in sich verschlossener Belrem. Seine Gesichtszüge waren düster, er wirkte bekümmert. Diese starke Veränderung war auch seinen Brüdern nicht entgangen.
Alle Wünsche nach Lebenslust schienen in Palästina verloren gegangen zu sein. Einsam und mit sich selbst hadernd schien er oft vor sich hinzubrüten und mit seinem Inneren zu kämpfen. Manchmal in stillem Leiden, manchmal begleitet von lauten Wutanfällen, und fast niemand fand in diesen Momenten Zugang zu ihm. Nur sein Lehrer, der fromme Pater Ambrosius, konnte ihm dann gut zureden und die furchtbaren Qualen des jungen Ritters dämpfen, aber die Ursache vermochte auch er nicht zu entdecken.
Belrems einzige Beschäftigung war die Jagd, aber man konnte nicht wirklich feststellen, ob sie ihm Vergnügen bereitete. Es war eine wichtige Aufgabe, sorgte er doch damit für Abwechslung auf dem Mittagstisch. Jedoch kam er meist mit verstörten Zügen zurück, und wies Kampfesspuren auf, als hatte er mit den erlegten Tieren direkt gekämpft. Belrems Fröhlichkeit, seine Unbekümmertheit, die jeder an ihm schätzte, war verloren.

So verstrichen etwa sechs harte Jahre, als eines Tages ein Bote auf den Hof der Burg Weißenstein einritt. Er war vom Pfalzgraf Wilhelm von Tübingen geschickt und war ein Hochzeitsbitter: "Die Herren von Weißenstein mögen im Namen ihres verstorbenen Vaters Anfang nächster Woche der Hochzeit von Pfalzgraf Wilhelms Tochter Adelheid mit Kuno von Münzenberg beiwohnen und die Verträge zur Hochzeit zu bezeugen und besiegeln". Aber so sehr sich seine Brüder über die Abwechslung aus dem arbeitsreichen und kräftezehrenden Alltag freuten, so unangenehm empfand Belrem diese Einladung. Hätte man ihn zu einer blutigen Fehde gefordert, er wäre mitgezogen, hätte man ihn zu einer Wolfsjagd eingeladen, wäre er dieser freudig gefolgt. Aber die Einladung zu einer Hochzeit war für ihn eine Höllenpein, denn seine verfinsterte Seele mochte keine fröhlichen Gesichter sehen.
Dennoch sagte er zu; er dachte an seinen verstorbenen Vater, den er sehr verehrte.
Der Tag der Hochzeit kam heran, und die Brüder zogen mit einem festlichen Aufzug aus der Burg, hinüber ins Würmtal und von dort auf die Heerstraße, die nach Tübingen führte. Vor der Abreise soll Pater Ambrosius Belrem noch ins Ohr geflüstert haben, daß endlich bessere Tage kommen, würde Belrem heute nur nicht das Schwert ziehen.
Im Schloß zu Tübingen ging es fröhlicher zu als in den traurigen Mauern der Burg Weißenstein, wo alle von Belrems Verhalten eingeschüchtert waren. Die im großen Saal zu Hohentübingen versammelten Frauen und Ritter waren festlich geschmückt, und wetteiferten miteinander, sich in Fröhlichkeit zu überbieten. Der Hochzeitstanz hatte begonnen. Die Trinksprüche auf das Hochzeitspaar wurden ausgesprochen und die Menschen feierten aus-gelassen. Die Minnesänger berichteten in ihren Gesängen den Frauen und Rittern von alten Zeiten, sangen von Riesen und Helden und von Schlachten und Kriegen. Das Fest war in schönstem Gange.
Nur auf Belrem machte dieser Frohsinn keinen Eindruck. Zusammen mit Konrad von Vaihingen, einem Mann, der für Belrems Düsterheit wie geschaffen schien, saß er in einer stilleren Ecke des Saales. Die gleiche Gemütsverfassung und der gleiche Menschenhass verband die beiden; nur dass Belrem sich selbst noch mehr zu hassen schien.
Konrad war von riesenhaftem Körperbau. Wenn er den Mund zum Sprechen öffnete, verzog sich sein Gesicht zu einer widerlichen Fratze, die nur durch das grausame Funkeln seines einen verbliebenen Auge überboten wurde. Sein zweites Auge hat er im Kampf verloren. Wenn es wahr war, was man sich über Konrad von Vaihingen hinter vorgehaltener Hand erzählte, so war sein Beiname, den ihm die Leute gaben, nicht ganz unpassend. Sie nannten ihn den Werwolf und er soll auch die dieser Sagengestalt nachgesagten Eigenschaften gehabt haben. So saßen die beiden beieinander und Konrad, der den angebotenen Wein in großen Mengen trank, schenkte diesen auch Belrem reichlich ein. Sie tranken beide in großen Zügen und je mehr Belrem trank, umso mehr schien seine Qual von ihm abzufallen.
Da trat der alte Pfalzgraf zu ihnen an den Tisch und mit der Freude eines väterlichen Freundes sprach er zum Weißensteiner: "Ich habe gute Nachrichten für Dich, lieber Belrem. Du sollst heute einen Kriegsgefährten wiedertreffen der gerade eben aus dem Morgenland eingetroffen ist. Es ist ..."
In diesem Augenblick traten zwei fremde Gestalten in den Saal. Es war ein junger Mann, der ein Mädchen in seltsamer Tracht an der Hand führte. Man glaubte in den beiden gerade Angekommenen Asien und Europa in Liebe vereint zu sehen. Sie war eine von jenen üppigen Töchtern des Morgenlandes, die bis in den kleinste Zug ihre asiatische Herkunft bezeugen. Ihr hoher, schlanker Wuchs, ihre Fülle von rabenschwarzem Haaren unter dem weißen Turban, ihr schwarzes, geheimnisvolles Auge, das gegen die etwas bleichen Wangen auffallend abstach, die ausdrucksvollen Züge, das orientalische Gewand; alles dies schien zu sagen, sie sei eine von jenen Feentöchtern, von jenen Zaubergestalten, von denen uns die Märchen von tausend und einer Nacht so eindrucksvoll erzählen. Sie sprach nur wenige Worte Deutsch, aber ihr lebhaftes Gebärdenspiel ließ jeden ihrer Gedanken erraten. In Rom war Zuleima zur christlichen Kirche übergetreten und nun wollte Volbert von Poltringen seinen alten Vater um den Segen bitten. Die anwesenden Gäste begrüßten die Neuangekommenen und auch Adelheid und ihr Bräutigam Kuno von Münzenberg fanden kaum Worte vor Freude über die unerwarteten Gäste. Am größten war jedoch die Freude beim alten Pfalzgrafen. Er gebärdete sich wie ein Kind, konnte sich an ihnen nicht satt sehen, und drückte beide immer wieder an sich. Volbert von Poltringen war sein Neffe und der Pfalzgraf war froh ihn unversehrt und bei bester Gesundheit wiederzusehen.
Einen gräßlichen Gegensatz zum allgemeinen Jubel bildete Belrem. Sein hochrotes, vom Wein glühendes, Antlitz verwandelte sich beim Anblick der Fremden in eine fahle Leichenblässe. Wie Fieberfrost überzog es seine Haut, seine Zähne schienen zu klappern und als er sich bemühte aufzustehen, sank er halb ohnmächtig auf seinen Sitz zurück. Sein Blick stierte tot und glanzlos auf einen Punkt in der Luft und von seiner Stirn rann kalter Schweiß herab.
Noch war es niemandem aufgefallen außer Konrad, der nun versuchte Belrem aus dem Saal zu führen. Aber Belrem saß leblos da wie ein Stein. In diesem Augenblick führte der alte Pfalzgraf Zuleima und Volbert an das untere Ende des Saales, wo Belrem und Konrad saßen. "Ich will Dir einen Bekannten zeigen, Volbert; He, Weißensteiner, kennst Du diesen Ritter da?"
Als Zuleima Belrem erblickte, stieß sie einen durchdringenden Schrei des Entsetzens aus, und glitt ohnmächtig zu Boden. "Lasst sie liegen" rief Volbert den Frauen zu, die sich um Zuleima scharten um ihr zu helfen. Sein Gesicht war wutentbrannt und er wandte sich an Belrem: "Das ist Dein Werk, Belrem von Weißenstein, aber sie wird wieder erwachen. Hat uns beiden ja im Heiligen Land dein Gift auch nichts anhaben können. Du wirst mir hier Rechenschaft ablegen, die Du mir in Asien verweigert hast!"
Aber Belrem hörte von all dem nichts; er war wie eine tote Masse und nur die Schweißtropfen, die von seiner Stirn rannen, bezeugten dass er noch lebte.
Als hätte plötzlich die ganze Versammlung der Donner gerührt standen alle Gäste umher; keiner sprach ein Wort, im Saal herrschte Todesstille. Aber Volbert fuhr an die Anwesenden fort, nachdem er Belrem kurze Zeit in wortlosem Zorn betrachtet hatte: "Zuleima wird wieder erwachen sobald dieser Schurke aus ihrer Nähe verschwunden ist." Dann wandte er sich Belrem zu: "Deine Schandtaten werde ich allen erzählen, solange ich noch meine Zunge bewegen kann."
Da schwollen die Zornesadern auf der Stirn des Vaihingers und sein glühendes Gesicht färbte sich blau vor Wut. Er sprang fürchterlich fluchend von seinem Sitz auf: "Du wagst es, Bube, einem Ritter wegen einer fremden, verlaufenen Dirne die Ehre zu rauben?" Beide zogen augenblicklich die Schwerter und in einem kurzen Gefecht erhielt Konrad eine leichte Wunde.
"Sie haben den Burgfrieden gebrochen, reißt sie auseinander", schrie der alte Pfalzgraf. Sogleich wurden die Kämpfer durch die anwesenden Ritter voneinander getrennt. Der Vaihinger riss Belrem, der noch immer totenähnlich dasaß, vom Sitz und beide verließen mit ihren Gefolgen das Schloß.
Die Ausgelassenheit der Gäste war durch diesen Vorfall schlagartig unterbrochen und es dauerte eine Weile, bis die Erinnerung an diese Begebenheit einigermaßen verblasste. Die Frauen zogen sich gegen Abend in ihre Gemächer zurück oder verließen das Schloss. Die Ritter aber zechten noch bis zum folgenden Morgen mit Musik und Gesang. Volbert und Zuleima wollten, von einem einzigen Knappen begleitet, noch vor Mitternacht das Schloß verlassen, um zu Volberts Familie heimzukehren.

Es war eine sternenklare Sommernacht. In dem schönen Tal bei Tübingen, das von einem kleinen Fluss den Namen Ammertal führt, sah man zwei Reiter auf ihren Pferden im Galopp dahinfliegen. Es waren Belrem und Konrad der Werwolf. Sie hatten ihre Gefolge heimgeschickt, als wollten sie eine Tat vollbringen, bei der kein Zeuge anwesend sein sollte. Beide waren durch den Wein und die Wut außer sich.
Das ganze Tal war still, nur hörte man bisweilen aus den geöffneten Fenstern des Schlosses, die man durch die Nacht schimmern sah, fröhliche Stimmen oder das Klingen der Glöcklein der kleinen Kapelle, die von einem kleinem Berg in der Nähe herunterschaute. Sie aber vernahmen nicht diesen Klang, der die Menschen zur Andacht rief; fürchterliche Gedanken wälzten sie in ihrer Brust.
Bald lag das weite Tal hinter ihnen, als sie anhielten und abstiegen. Am Fuße eines Hügels, nicht weit von der Strasse, schlugen sie ihr Lager auf. Es war Totenstill; es ging auf Mitternacht zu.
Endlich unterbrach der Vaihinger das Stillschweigen:"Die Geschichte mit dem Mädchen scheint mir sonderbar. Wo hast Du sie im Morgenland kennengelernt?" Da erfasste Belrem wieder diese unbändige Wut. Er ballte die Fäuste und hob sie gegen den Himmel, als wollte er diesen verfluchen. "Die Geschichte ist kurz," sprach er mit verbissenem Zorn und begann nach einer Weile, wie es ihm seine Wut erlaubte, in abgebrochenen Sätzen zu erzählen: "Wir lagen vor Jerusalem. Der Kaiser wollte den Sultan zu einem Waffenstillstand zwingen. Der Poltringer und ich waren viel zusammen. Ich kannte ihn von Jugend an, bei der Hölle, ich habe ihn geliebt wie meinen Bruder. Er erzählte mir eine Heidin sei gefangen worden und er hätte alles aufbieten müssen, sie vor Mißhandlungen zu schützen. Ihr Vater und ihre Brüder sind bei den Gefechten gefallen und sie habe von ihm auch den Tod erbeten. Er habe sie unversehrt wieder in ihr Zelt zurückgeschickt, übergab ihr aber zuvor die Rose, welche er auf seinem Helm getragen hatte."
"Es war Mitternacht," fuhr Belrem fort," und ich hielt am äußersten Platz des Lagers alleine Wache. Der Mondschein zeigte mir eine weibliche Gestalt, die sich auf mich zu bewegte. Plötzlich stand sie vor mir." - hier hielt Belrem inne, als ob ihn ein Schauder durchrieselte.
"Sie war es, die Du vorhin gesehen hast. Mein Atem stockte und mir wurde schwindelig. Sie sprach mich an, aber ich verstand ihre Sprache nicht. Da zeigte sie mir die Rose und ich erkannte des Poltringers Abzeichen. Nun verstand ich: sie wollte ihn sprechen. Diesen Gedanken konnte ich nicht ertragen."
"Du sollst mein werden, schwur ich, und wenn es mich mein Leben kosten sollte. Ich täuschte sie und führte sie zu einer Jüdin, die sie bewachte. Sie weinte viel, die Elende, meine rasende Liebe berührte sie nicht. Ich bat, ich fluchte, weinte und drohte; umsonst. Ich marterte sie und betete sie wieder an, sie aber hasste mich. Tod und Verderben! Eines Morgens war sie verschwunden. Sie hatte die Jüdin überwältigt und war geraden Weges in das Zelt des Kaisers geflohen, um mich anzuklagen. - Volbert verwundete mich stark. - Die Erzählung ist zu Ende. Ich gab der Jüdin neben meinem Geld noch einen geheimen Auftrag und ergriff, trotz meiner Wunde, die Flucht. Ehe ich das Schiff bestieg erfuhr ich dass das Gift seine Wir-kung getan habe. Ein finsterer Geist verfolgte mich, - ich trauerte um die beiden - und heute sah ich sie lebendig!"
"Helfe mir der Böse, ich mag nach dieser Schmach nicht mehr leben! Aber Rache will ich nehmen. Sie muß sterben." - Ein Fluch besiegelte diese furchtbaren Worte.
"Und auch ich habe eine Schuld abzutragen," schrie der Vaihinger, "und will es getreulich vergelten! Es kann nicht mehr lange dauern; um Mitternacht wollten sie das Schloß verlassen."
Unterdessen zog eine düstere schwarze Wolke vom Gebirge her in das Tal und der Himmel verdüsterte sich zunehmend. In der Ferne hörte man schon den Donner grollen. Ein kühler Luftzug, der Vorbote des nahenden Gewitters, hatte das Tal durchzogen und wie die Täler der Unterwelt wurde es immer dunkler. Schon vernahm man starke Donnerschläge. Gleich dem Tiger, der seiner Beute auf der Spur ist, näherten sich Belrem und Konrad der Strasse. Beide waren noch sichtlich betrunken von dem genossenen Wein.
"Horch," rief Belrem, "ich höre Hufschlag."
"Hörst Du seine Stimme? Er schmeichelt dem Mädchen," flüsterte der Werwolf tückisch. Der Donner rollte immer fürchterlicher. Ein Blitzstrahl fiel auf ihre gezogenen Schwerter.
"Halt, Schurke," schrie der Vaihinger und beide stürzten aus dem Hinterhalt hervor. Furchtbarer Donner übertönte das wütende Gefecht, ein zermalmender Blitz und ein furchtbarer Schlag folgten. Dann trat tiefe Stille ein. - Die Ritter waren verschwunden.

Das erwachen eines zum Tode verurteilen Verbrechers am letzten Morgen vor der Hinrichtung kann nicht grässlicher sein, als das Erwachen Belrems nach dieser fürchterlichen Nacht. Entsetzliche Träume hatten ihn, während er schlief, gefoltert. Jetzt marterten ihn die furchtbarsten Gewissensbisse. Die Burg wurde ihm zu eng und trotzdem mochte er nicht ins Freie treten. Ihn quälte eine entsetzliche Einsamkeit und doch mied er jeden Kontakt zu den Menschen. Er versuchte zu beten, aber er konnte seine Gedanken nicht zu einem Gebet formen. Da fielen ihm die Worte von Pater Ambrosius ein, die ihm dieser beim Aufbruch mit auf den Weg gegeben hatte; er raufte sich die Haare, schlug sich selbst mit Fäusten und verfluchte den Tag seiner Geburt.
Bevor Belrem aus Weißenstein verschwand, ließ er durch einen Knappen seinem Bruder Berthold ausrichten, er möge seine hinterlegten Schätze nehmen und sie seinem Vetter Belrem von Eselsburg überbringen. Dieser plante die Gründung eines Klosters bei Rechentshofen und sein Beitrag solle für sein Seelenheil wirken.

Unsere Geschichte macht nun einen Sprung von etwa 15 Jahren. In diesen Jahren hat sich vieles verändert. Belrem hatte Jahre als Laienbruder in einem Benediktinerkloster bei Rom verbracht, aber auch dort keine Ruhe gefunden. Inzwischen war Kaiser Friedrich gestorben, was Belrem dazu bewog wieder nach Hause zu ziehen und in der unruhiger werdenden Zeit seinen Teil zum Schutze Weißensteins beizutragen. Dort behielt er aber immer noch seine Unruhe. Selbst die Heirat mit einer Frau aus einem befreundeten Adelshaus und die Geburt zweier Söhne, Berthold und Belrem, brachten nicht den erhofften inneren Frieden. Auch wenn er jetzt seine ganze Kraft in die Verwaltung der Lehensgüter und den Auf- und Ausbau der Waldhufen steckte, nagte der Kummer in ihm weiter. Er lebte sehr zurückgezogen, aber in seinen finstersten Stunden tobte er weiter wie in jungen Jahren, wobei es selbst dem inzwischen alten Ambrosius nicht mehr gelang, ihn zu besänftigen.
Die Jahre zogen indes weiter ins Land, nur selten trat er noch öffentlich in Erscheinung und auch dann nur wenn es nicht anders ging. Die Geschäfte erledigte sein Bruder Berthold und sein Bruder Gottbert betreute erst die Kirchengemeinde in Haslach und später in Brötzingen. Wie durch einen Fluch aber wollte der ersehnte Tod nicht kommen, Belrem wurde älter und älter, dann starb erst sein älterer Bruder Berthold, dann der steinalte Pater Ambrosius.
Am Abend des Todes des alten Ambrosius knieten Belrems Frau und seine Söhne an dessen Totenbett und beteten für sein Seelenheil, als ein wahnsinniges Weib in seltsamer Tracht, das rabenschwarze Haar aufgelöst, mit geisterhaftem Blick und wild rollenden Augen auf der Burg Weißenstein erschien. Es war Zuleima und niemand wusste wie sie es geschafft hatte, in die Burg zu kommen. Sie war lange an der Wunde niedergelegen, die ihr Belrem in jener verfluchten Nacht zugefügt hatte, und von der er annahm, sie sei tödlich gewesen. Aber wie er war sie am Körper gesundet und in der Seele unheilbar erkrankt.
Mit Blitzesschnelle sei sie an Belrems Frau und Kindern vorbei die Wendeltreppe den Turm hinaufgestiegen, wo Belrem in dumpfer Verzweiflung in die Nacht hinausschaute. Ein ungewöhnlich starkes Gewitter war aufgezogen und die Bewohner des Tales waren durch das Donnern und Grollen so verstört, daß sie in die Kirche zum Gebet geflohen sind. Das Weib trat zu Belrem an die Zinnen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin vernahmen Belrems Frau und seine Söhne einen dumpfen Schlag. Man fand Belrem zerschmettert im Schloßhof. Im Tale ging das Gerücht herum Belrem sei vom Teufel die Zinnen hinunter geschleudert worden. Er wurde zusammen mit Ambrosius bestattet.
Zuleima soll kurz darauf, am gleichen Tage wie Belrems Frau, gestorben sein. Belrems Söhne blieben ehe- und kinderlos und als Belrems Sohn Berthold 1301 verstarb, erlosch das Geschlecht der Herren von Weißenstein.

Noch heute soll, besonders bei schweren Gewittern, eine hohe Gestalt im Dunkeln des Burghofes zu sehen und seine Klagenden Worte zu hören sein. Ob dies Belrem ist? Wir wissen es nicht.